Jugendstil: Einheit von Kunst und Leben

Jugendstil: Einheit von Kunst und Leben
Jugendstil: Einheit von Kunst und Leben
 
In den späten Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts begann eine internationale Kunstepoche, deren Leitbild das stilistisch einheitliche »Gesamtkunstwerk« war: Von der Baukunst bis zur Malerei und Grafik, von Möbeln bis zu Mode und Schmuck vereinte ein gemeinsamer Stilwille alle Bereiche künstlerischen Schaffens. Ausgelöst wurde diese Bewegung durch die Aufbruchstimmung, mit der sich die bevorstehende Jahrhundertwende ankündigte. Die Architektur des Historismus, die keinen eigenen Stil kannte, sondern sich in Wiederholungen hergebrachter Formen erschöpfte, genügte der jungen Künstlergeneration nun nicht mehr. Diese beklagte zudem, dass die handwerkliche Herstellung von Gebrauchsgegenständen durch die industrielle Fertigung geschmackloser Massenprodukte verdrängt worden war. Auch in Malerei, Grafik und Skulptur blieb kein Spielraum für Fantasie und Geist, Gefühl und Stimmung, da im Naturalismus die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe an die Vordergründigkeit der abgebildeten Motive gebunden war.
 
Zeitschriften, die in fast allen Ländern Europas erschienen und im internationalen Austausch gelesen wurden, sorgten für die rasche Verbreitung des »Neuen Stils«, der überall seinen eigenen Namen erhielt. In Deutschland kam in Anlehnung an den Titel der neu gegründeten Zeitschrift »Jugend« die Bezeichnung »Jugendstil« auf. Die französische Bezeichnung »Art nouveau« leitet sich von der Firmenbezeichnung eines Pariser Kunsthändlers ab; entsprechend nannte man die Epoche in England »Modern Style«, in den Niederlanden »Nieuwe kunst«, in Spanien »Stile moderniste«, in Italien »Stile liberty«. In Österreich sprach man vom »Secessionsstil« - benannt nach der Künstlergruppe, die sich 1897 von den akademischen Traditionen gelöst hatte.
 
Auch wenn der Jugendstil einen bewussten programmatischen und stilistischen Neuanfang beschwor, sind seine historischen und exotischen Vorbilder unübersehbar. So verkaufte die Galerie »L'Art Nouveau« in Paris neben den einheimischen neuen Werken auch japanische Holzschnitte und chinesische Lackarbeiten, die scheinbar die neue Formensprache vorweggenommen hatten; die in London erscheinende Zeitschrift »The Studio« veröffentlichte Umzeichnungen keltisch-insularer Ornamentik aus vorchristlicher Zeit und minoischer Keramik- und Wandmalereien aus dem 16./15. Jahrhundert v. Chr. Die Jugendstilkünstler adaptierten aber auch barocke Formen, im Kunstgewerbe und in der Bauplastik mischten sich sogar naturalistische Elemente zwischen die neuen Stilformen.
 
In der Architektur des Jugendstils entwickelten sich zwei völlig gegensätzliche Ausdrucksweisen, zwischen denen es freilich unzählige Verschmelzungen gab: eine »plastisch verschleifende« und eine »kubisch kristalline« Richtung. Erstere fand sich vornehmlich in den romanischen Ländern. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war der Katalane Antonio Gaudí, sein hierfür typischstes Bauwerk ist die Casa Milá in Barcelona: Die Architektur ist in eine riesige Skulptur umgedeutet, die aus knetbarem Material geformt zu sein scheint. Hinter ihrer sichtbaren Außenhaut verbirgt sich ein Stahlskelett, das mit Bruchsteinen ausgefüllt und fugenlos verkleidet ist, sodass man denken könnte, die Fassade sei aus Beton gegossen. Den Gegenpol bilden die Bauten des Wiener Jugendstils, der sowohl in der Außen- als auch in der Innenarchitektur Anregungen der »Glasgow School of Art« verarbeitete. Führende Architekten waren Otto Wagner, Joseph Maria Olbrich und Josef Hoffmann. Das Wohnhaus, das Hoffmann in Brüssel für den Bankier Stoclet baute, zeigt eine kubische Gesamterscheinung mit flächenbetonten, geometrischen Wänden und kantig gegeneinander stoßenden Blöcken, die sparsam mit Ornamenten eingefasst sind. Einfachheit, klare Proportionen und kostbare Materialien bestimmen den Eindruck dieses Gebäudes. Von hier aus führte ein Weg zur Architektur des »Bauhauses«.
 
Skulptur im öffentlichen Raum war bis zur Jahrhundertwende naturalistische Skulptur. Das Gefühl für den Werkstoff hatte man verloren, Bronze und Marmor täuschten fremdes Material vor, die Monumentalität entsprach nicht der inneren Form, die eher kleinlich war. Die neue Generation der Bildhauer setzte hier andere Maßstäbe - zwischen stiller Form und rauschhafter Bewegtheit. In Deutschland arbeitete Adolf von Hildebrand mit klaren Linien, geschlossenen Umrissen und harmonischen Proportionen, mit denen er die Allgemeingültigkeit der bildnerischen Erscheinung betonte. Ähnlich abstrahierte Formen verwandte in Frankreich Aristide Maillol. Auguste Rodins Skulpturen sind dagegen von innerer Dynamik durchströmt, die ihre Gebärdensprache bestimmt. Vielfach lösen sie sich aus der gestaltlosen Materie, bewegen sich in schwingenden Umrissen und vibrierenden Oberflächen. Andere Künstler - etwa Paul Gauguin - orientierten sich an bäuerlichen Flachschnitzereien oder an Skulpturen der Volkskunst, aus denen eine bislang unbekannte Kraft zu neuen Ausdrucksformen wies.
 
Auch die Malerei brach mit den Traditionen, die einerseits als naturalistische Salonmalerei absolute Wirklichkeitstreue beanspruchten, andererseits als impressionistische Malerei den vergänglichen Augenblick vergegenwärtigten. Erster Theoretiker des »Neuen Stils« war ein junger Franzose, Émile Bernard. Er forderte vom gemalten Kunstwerk, es solle die Gegenstände, die dem Impressionismus anscheinend gleichgültig waren, in einer auf das Wesentliche konzentrierten Form wiedergeben; Form und Bedeutung sollten eine Synthese bilden. Ein solcher »Synthetismus« erforderte aber, gewohnte Formen zu verändern: »Déformation« wurde zum Schlagwort der Künstler.
 
Bernard malte sein erstes Bild im »Neuen Stil« 1888 im Alter von 20 Jahren in Pont-Aven, wo er zusammen mit Künstlerfreunden lebte, zu denen auch Gauguin gehörte: Es zeigt bretonische Frauen, die an einem Sonntag aus der Kirche gekommen sind und auf einer Wiese vor der Kirche stehen, eine Szene, die sich wöchentlich wiederholte und für das Gemeinschaftsleben im Dorf offenbar von Bedeutung war. Als Schauplatz malte Bernard nur die Wiese als gelbgrüne Fläche, die das ganze Bildfeld ausfüllt. Darauf setzte er, wie ausgeschnittene Silhouetten, die Figuren in ihren typischen, sich wiederholenden Umrissen, die er mit dunkler Kontur gegen die Nachbarflächen und -farben scharf abgrenzte. Dieses Bildgerüst aus dunklen Linien, die farbige Flächen umschließen, erinnert an Bleiverglasungen mittelalterlicher Kirchenfenster oder an die Kupferstege von Emailarbeiten, die »Cloisons«. Auch japanische Holzschnitte, die flächig gedruckte Farben zwischen dunklen Linien der Zeichnung zeigen, beeinflussten diese Darstellungsweise. Der Maler Maurice Denis, der anfangs der »Schule von Pont-Aven« nahe stand und später der wichtigste Theoretiker der »Nabi« wurde, definierte den »Cloisonismus« so: Bevor es eine Landschaft oder eine nackte Frau darstelle, sei ein Bild eine reine Fläche, die von Linien und Farben in einer bestimmten Ordnung bedeckt sei.
 
Der »Neue Stil« stieß sofort auf große Akzeptanz und verbreitete sich in den Neunzigerjahren über ganz Europa. Obwohl er dabei vielen Änderungen unterworfen war, behielt man stets die Flächigkeit des Bildaufbaus, die Silhouettenhaftigkeit oder zumindest die Konturierung der Figuren und Gegenstände, die Vereinfachung der Formen, die Reduzierung der Farben auf wenige Töne bis hin zur Monochromie sowie die Dominanz der Linien bei. Aus der Verbindung dieser Elemente resultiert die eigentümliche Stimmung, die zum wesentlichen Gehalt von Jugendstilbildern gehört.
 
Kamen die entscheidenden Anregungen zur Malerei des Jugendstils aus Frankreich und waren dort von der Auseinandersetzung mit der Natur beeinflusst, so prägten Künstler aus England die Entwicklung der Grafik. Schon William Blake hatte um 1800 seine visionären Gedichte in einer selbst entworfenen Schrift gedruckt und mit arabeskenhaften, floralen Linien umrahmt. William Morris veröffentlichte in der »Kelmscott Press« illustrierte Bücher präraffaelitischer Künstler mit Bildern, Zierleisten und einer neu entworfenen Schrift. Hier knüpfte der junge Aubrey Beardsley an, dessen Illustrationen das Lebensgefühl der »Décadence« sichtbar machen.
 
Doch nicht nur der Stil, sondern auch der Bildinhalt bestimmten das Wesen von Malerei und Grafik. Zur traditionellen Fachmalerei - untergliedert nach den Gattungen Landschaft, Stillleben, Porträt, Genre und Akt - traten zeittypische Motive hinzu, wie sie der Verleger Georg Hirth für seine Zeitschrift »Jugend« von seinen Mitarbeitern forderte: »Es können die Bilder Bezug haben auf Frühling, Liebe, Kindheit, Brautzeit, Mutterglück, Spiel, Mummenschanz, Sport, Schönheit, Poesie, Musik«. Doch auch die Verbindung mit dem Symbolismus erlangte für den Jugendstil Bedeutung, da der »Neue Stil« sich in hohem Maße dafür eignete, das Unsichtbare im Sichtbaren zu manifestieren.
 
Das Ende des Jugendstils war noch fließender als sein Anfang. Seine Wohnkultur galt in ihren üppig auswuchernden Formen rasch als überholt, die funktionellen Prinzipien Henry van de Veldes und der sachliche Stil der Wiener Werkstätte wurden im Deutschen Werkbund unter Verzicht auf Ornamentik weiterentwickelt. Die Grundzüge der Malerei und Grafik - Flächigkeit und Deformation - nahm der Expressionismus auf, wandelte sie jedoch ab: Die Linien schwingen nun nicht mehr kurvig, sondern werden eckig gebrochen, der Farbakkord ist nicht mehr harmonisch, sondern dissonant. Gegenstandsfreie Formen, die bei van de Velde und Adolf Hoelzel nebenbei entstanden, wurden bei Wassily Kandinsky, dessen Wurzeln im Jugendstil liegen, zum ausschließlichen Bildinhalt. Viele dekorative und figurale Motive gingen fast nahtlos in die »Art Déco«, eine Stilphase des Kunstgewerbes der Zwanziger- und Dreißigerjahre, über. Das Ende der Epoche des Jugendstils liegt somit zwischen 1906 und 1914, sein Erbe aber lässt sich weit bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen.
 
Prof. Dr. Ha
 
ns Hofstätter
 
 
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert, Band 2: Cachin, Françoise: 1850—1905. Realismus, Impressionismus, Jugendstil. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Hofstätter, Hans H.: Geschichte der europäischen Jugendstilmalerei. Ein Entwurf. Köln 61977.
 Hofstätter, Hans H.: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende. Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Bedeutungen. Köln 41978.

Universal-Lexikon. 2012.

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